Der Einladungsbrief und Fragebogen von 1699
ed. von Jon Mathieu und Simona Boscani Leoni, République des Lettres 2019

Der Einladungsbrief und Fragebogen von 1699

Im Jahr 1699 publizierte Johann Jakob Scheuchzer ein Forschungsprogramm in Form einer Broschüre, parallel in deutscher und lateinischer Sprache, mit dem Titel: „Einladungs-Brief zu Erforschung natürlicher Wunderen, so sich im Schweitzer-Land befinden“; „Charta Invitatoria, Quæstionibus, quæ Historiam Helvetiæ Naturalem concernunt, præfixa“. Ähnlich wie bei der förmlichen Eröffnung eines Briefwechsels und Informationsaustauschs zwischen Gelehrten wurde hier zu einem commercium litterarum eingeladen, nur betraf die Einladung nicht eine bestimmte Person, sondern ein Kollektiv, das mittels eines Druckwerks angesprochen werden sollte. Scheuchzer wollte, wie er schrieb, verschiedenste Kreise erreichen: alle gelehrten Männer aus allen Ständen, namentlich vornehme Jagdliebhaber, aber auch gewöhnliche Leute, die einen engen Umgang mit der Natur pflegten wie „Fischer, Hirten, Sennen, Einwohner der Alpen, Baursleuth, Kräuter- und Wurtzengraberen“; eine besondere Bitte richtete er sodann an die Ärzte, also seine eigenen Berufskollegen. In der Einleitung zur Broschüre werden die Rahmenbedingungen und der Nutzen eines solchen Programms dargelegt, ab Seite 4 folgen 189 Fragen zur Erforschung der Schweizer Naturgeschichte.

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Die Einleitung beginnt mit dem Verweis auf das Vorbild der Royal Society in London, die sich zum Ziel setzte, das Wissen über die Natur zu verbessern, und schon in den 1660er Jahren ein derart systematisches, auf bestimmte Fragen fokussiertes Verfahren erprobte.

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Gedacht waren ihre Fragen für Mitarbeitende in England wie auch für Reisende in koloniale Überseegebiete, was „herrliche Nutzen in die Politic, Medicin, und Oeconomie“ gebracht habe. Noch wichtiger als die Erforschung entlegener Orte war aber laut Scheuchzer die gute Kenntnis des Vaterlands. Von auswärtigen Reisenden werde die gebirgige Schweiz mit einer gewissen Berechtigung als „rauh und wild“ betrachtet. Dies heisse aber nicht, dass das Land „wüst und öd“ liege und von der Natur vernachlässigt worden sei. Vielmehr habe es „grosse Wunder und herrliche Gaaben der Natur“ zu bieten. Solche Wunder gelte es jetzt im Anschluss an die 1680 publizierte Naturgeschichte von Johann Jakob Wagner – einem Lehrer von Scheuchzer – vertieft zu erforschen, und dazu brauche es die Mitarbeit von gelehrten, wissbegierigen und erfahrenen Männern aus dem ganzen Land. Ihnen verspricht Scheuchzer, dass ihre Beiträge namentlich gekennzeichnet würden. Er wolle sich nicht mit fremden Federn schmücken.
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Die anschliessenden 189 Fragen folgen keiner strengen Systematik. Gleichwohl zeichnet sich eine gewisse Ordnung ab. Man kann etwa folgende Fragen unterscheiden:

  • Nr. 2-16: Luft, Klima, Witterung
  • Nr. 23-45: Schnee und Gletscher
  • Nr. 46-93: Gewässer, Heilquellen und Bäder
  • Nr. 94-112: Topografie, Berge
  • Nr. 113-123: Fruchtbarkeit und Bevölkerung
  • Nr. 124-134: Pflanzen, Nutzpflanzen
  • Nr. 135-149: „Vierfüssige Tiere“, besonders Rindvieh
  • Nr. 150-162: Vögel, Fische, Insekten
  • Nr. 167-174: Geologie, Paläontologie
  • Nr. 175-189: Alpwirtschaft

Die im nächsten Kapitel wiedergegebene Bündner Korrespondenz gibt vertiefte Auskunft über die Entstehung und die Verteilung dieses Einladungsbriefs. Besonderes Interesse verdienen natürlich die Reaktionen auf die Fülle von Fragen, die Scheuchzer an seine wissbegierigen („curiosen“) Zeitgenossen herantrug. Die Tatsache, dass man für Graubünden heute nur zwei einigermassen umfassende Antworten findet und Hinweise auf zwei verschollene Antworten vorliegen, deutet an, dass sie nicht überschätzt werden sollte. Gleichwohl gibt es viele Hinweise, dass der mittel- und langfristige Effekt dieser Forschungsinitiative gross war. Mit seinem kollektiven Ansatz und seinem breit gefächerten empirischen Interesse hat Scheuchzer die Forschung des 18. Jahrhunderts stark belebt. Hier folgt der Text der deutschen Fassung des Einladungsbriefs in buchstabengetreuer Wiedergabe, mit leichter Modernisierung des Schriftbilds und einigen Wort- und Sacherklärungen, um die Lesbarkeit zu erhöhen.

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