Klientelismus und Freundschaft – Die Korrespondenz zwischen Albrecht von Haller und Vinzenz Bernhard Tscharner
Herausgegeben von Raphael Germann, hallerNet 2019

Gallotropismus, Übersetzungen und Raubdrucke

Tscharners Übersetzungen von Hallers Gedichten ins Französische waren ursprünglich als eine Unterhaltung respektive als eine Übung gedacht.

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In den Biographien über Vinzenz Bernard Tscharner von Gustav Tobler und Enid Stoye wird vor allem seine patriotische Gesinnung betont und sein Versuch, die Helvetische Kultur zu verbreiten, oder zumindest dieser ein Gesicht zu geben. In den Augen der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts verblasste diese gegenüber der französischen Kultur, welche ganz Europa überspannte und bis an den Hof von St. Petersburg reichte. In diesem Zusammenhang können Tscharners Übersetzungen als ein ebensolcher Versuch gesehen werden.
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Um die wertenden und dennoch geläufigen Begriffe wie Francophilie oder Francophobie zu umgehen, eignet sich die neutrale sowie sachliche Bezeichnung des Gallotropismus.
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Diese Definition kann auch auf die Korrespondenz respektive die Einstellung von Haller und Tscharner angewendet werden. Einerseits korrespondierten beide auf Französisch und waren auch weiteren kulturellen francophonen Einflüssen ausgesetzt. Andererseits gab es konfessionelle sowie kulturelle Unterschiede. Zudem etablierte sich die englische Kultur im 18. Jahrhundert immer mehr und relativerte den Gallotropismus.
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Auch die deutsche Sprache wurde im Verlaufe des 18. Jahrhunderts immer populärer.
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Zudem zeigten sich in der Schweiz in dieser Zeit Anzeichen eines Nationalbewusstseins und einer eigenen Identität. So ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Tscharner im Januar 1749 plante, ein Geschichtswerk über die Eidgenossenschaft zu schreiben.
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Gerade Tscharners Übersetzungen von Hallers Gedichten sollten in diesem Kontext betrachtet werden.
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Erste Versuche für eine französische Übersetzung von Hallers Gedichten fertigte Tscharner bereits 1746 an. Er sandte in der Folge einige in seinen Augen mittelmässige Verse vom Gedicht über die Ehre (La Gloire) zuerst an seinen Freund Rudolf Sinner. Tscharners Hauslehrer, Johann Stapfer, ermutigte ihn mit den Übersetzungen fortzufahren und überredete ihn, das übersetzte Gedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden (l’Epître à M. le professeur Stähelin, sur la fausseté des vertus humaines) nach Amsterdam an die Zeitschrift Bibliotheque raisonnée des ouvrages des Savans de l’Europe zu senden.
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Als die Verse 1747 publiziert wurden, kontaktierte Tscharner in einem ersten Brief Haller und erwähnte, dass es Stapfer war, der ihn dazu motivierte, das übersetzte Gedicht nach Amsterdam zu senden.
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Diese Translation fand bei Johann Jakob Bodmer offensichtlich grosse Anerkennung.
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Trotz solcher positiven Rückmeldungen blieb Haller recht skeptisch und befürchtete, dass eine schlechte oder mangelhafte Übersetzung in Frankreich, seinem Ruf schaden könnte. Dennoch drängte Tscharner Haller auf eine weitere Publikation seiner übersetzten Gedichte und brachte Jean Bertrand als Korrekturleser ins Spiel. Obwohl der junge Übersetzer Tscharner schon vorher ohne Zustimmung Hallers ein Gedicht veröffentlicht hatte, hielt er sich dieses Mal zurück.
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Im April 1749 antwortete Haller auf Tscharners Drängen und erwiderte offen, dass Bertrand wegen des Status von Tscharners Familie vielleicht nicht offen urteilen könne und schlug vor, nur ein weiteres Gedicht zu publizieren und die Reaktion darauf abzuwarten.
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Die Rückmeldungen auf das im Mai 1749 erschienene übesetzte Gedicht Les Alpes waren positiv. Durch diesen Erfolg motiviert, versuchte Tscharner auch weitere Übersetzungen von Hallers Gedichten zu veröffentlichen.
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Dieser stimmte letztlich zu, betrachtete es aber als notwendig, dass zur Publikation seiner übersetzten Gedichte auch ein Vorwort von ihm erscheinen sollte und ging somit das Risiko ein, dass, wenn er eine Einleitung zu den Übersetzungen verfassen würde, er sein Inkognito verlieren wird. Die Leser würden wissen, dass Haller von den Übersetzungen nicht nur wusste, sondern diesen auch zustimmte.
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Im Frühjahr 1750 kam der Gedichtband Poésies choisies de M. de Haller, traduites en prose par M. de. T. beim Göttinger Verleger Abraham Vandenhoeck heraus und wurde an der Ostermesse in Leipzig ein Erfolg. Baron Friedrich Melchior von Grimm kritisierte gegenüber Haller, dass die Gedichte vom Original ziemlich abweichen würden, dies aber für das französische Publikum ausreiche.
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Auch Tscharner wusste, dass sein Übersetzungswerk noch verbesserungswürdig war und schrieb an Haller, dass er bereits an einer neuen Version arbeite.
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Überarbeitete französische Versionen von Hallers Gedichten, welche offiziell von Tscharner stammten, folgten 1760 und 1775. Diese waren aber nicht die einzigen Übersetzungen.

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In der Korrespondenz berichtete Tscharner an Haller von einem gewissen Herr Werdmüller, welcher versuchte, das Gedicht Doris zu übersetzen.
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Neben Übersetzungsversuchen, welche nie gedruckt wurden, existieren auch Gedichte, welche zwar ursprünglich aus Tscharners Feder stammten, aber ohne seine offizielle Zustimmung publiziert wurden. Als Vandenhoeck in Göttingen die Poésies choisies de M. de Haller 1750 gedruckt hatte, erschien im gleichen Jahr im Verlag Heidegger & Co. in Zürich ein erster Raub- respektive Nachdruck.
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Gerüchte oder sogar Informationen dazu tauchten bereits im Sommer 1749 auf. Tscharner gab seinem Lehrer, Johann Stapfer, die Schuld, da durch diesen die Gedichte nach Zürich zu Johann Heidegger gelangten.
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Haller reagierte allerdings erst 1750 darauf und prangerte die Fälschung (contrefaction) aus verschiedenen Gründen an. Erstens ging es um die Konditionen zwischen Abraham Vandenhoeck in Göttingen und Hallers Bruder, Niklaus Emanuel, in Bern. Durch den Raubdruck von Zürich entstand für diesen eine ernsthafte Konkurrenz. Zweitens sah Haller darin eine Ehrverletzung, dass Heidegger ohne Tscharners oder seine Zustimmung dieses Werk publizierte. Zudem erkannte er die Gefahr, dass wenn der Autor und der Übersetzer nicht einbezogen waren, ein mangelhaftes Werk unter ihren Namen erscheinen könnte.
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Tscharner versuchte, seine Vorbehalte und Befürchtungen zu relativieren. Im Gegensatz zu Haller verwendete Tscharner in seinen Briefen nicht den Ausdruck Fälschung, sondern das Wort Nachdruck (réimpression). Er erklärte, dass Vandenhoeck durch die Zürcher Version wahrscheinlich keinen Schaden erleiden werde, und gab damit seiner Hoffnung auf eine potenziell hohe Nachfrage nach diesen Werken Ausdruck.
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Dieses Vorgehen, Werke nachzudrucken, wurde im 18. Jahrhundert aus wirtschafts- und kulturpolitischen Gründen vielerorts toleriert oder zum Teil sogar gefördert. Die billigeren Drucke gewisser Publikationen ermöglichten zudem meist eine flächendeckende Verbreitung. Die Nachdrucker können daher auch als Verbreiter der Aufklärung betrachtet werden.
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Der Raubdruck von Hallers Übersetzungen erscheint somit als Förderung der helvetischen Kultur und lag damit in Tscharners ursprünglichem Interesse, obwohl er sich in den Briefen an Haller darüber brüskiert zeigte.
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Zudem ist zu betonen, dass er mit seinen Übersetzungen kein Geld verdiente.
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Haller hingegen musste aufpassen, dass er seinen Verleger in Göttingen nicht verärgerte. Auch die Geschäfte seines Bruders musste Haller beschützen. Trotz dieses potenziellen Interessenskonfliktes zwischen den beiden Korrespondenten spitzte sich die Situation nicht weiter zu. Im Herbst 1750 schrieb Tscharner einen verständnisvollen Brief und stellte sich auf die Seite Hallers.
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Im Kontext der französischen Gedichtübersetzungen in der Korrespondenz zwischen Tscharner und Haller fallen mehrere Aspekte auf. Einerseits zeigt es, dass die alte Eidgenossenschaft als eine Mediatrix zwischen dem francophonen und dem deutschen Sprachraum diente. Daneben erscheinen auch Holland als ein weiterer kultureller Vermittler oder Drehscheibe, da dort die ersten übersetzten französischen Verse von Hallers Gedicht (Die Falschheit menschlicher Tugenden) publiziert wurden. Es verdeutlicht zudem, dass die Protagonisten dieser Forschungsarbeit (darunter vor allem Haller) einige Vorurteile gegenüber der französischen Kultur hatten. In anderen Korrespondenzen äusserte Haller offener seine Meinung gegen die Franzosen.

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Für seine Vorurteile existierten mehrere Gründe. Neben den bereits erwähnten konfessionellen Unterschieden ist sicherlich auch der französische aristokratische Lebensstil zu erwähnen, den Haller als oberflächlich und egozentrisch kritisierte und als eine Gefahr für eine Republik wie Bern betrachtete. Seine Abneigung zeigte er aber eher im vertrauten Freundeskreis.
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Zürcher Gelehrtenstreit und deutsche Literatur

Für Haller war auch die deutsche Dichtkunst und Sprache noch etwas Junges und somit weniger kultiviert.

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Frankreich hingegen besass bereits im 17. Jahrhundert eine Académie française, welche Standards und grammatikalische Normen festlegte. Noch während des 18. Jahrhunderts fehlte eine solche Institution im deutschen Sprachraum.
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Versuche, die deutsche Sprache zu vereinheitlichen, kamen zu dieser Zeit aus Leipzig von Johann Christoph Gottsched. Er vertrat die These, dass eine gewachsene Sprache keine Norm und Logik aufweise. Er wollte somit der deutschen Sprache eine Norm geben, welche vor allem durch den ostmitteldeutschen sächsischen Dialekt bestand. Vor allem Gelehrte aus den schwäbisch-alemannischen Sprachregionen, beispielsweise aus Bayern oder der heutigen Schweiz, wehrten sich gegen solche Vorschläge. Für Samuel König zählte das schweizerdeutsche Idiom als eigenständige Sprache. Auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft beteiligten sich auch Samuel Henzi, Johann Jakob Breitinger und vor allem Johann Jakob Bodmer an diesem Disput. Die beiden letzteren traten dabei als Wortführer auf und bildeten den harten Kern der helvetischen Fraktion im ausbrechenden Gelehrtenstreit. Da Bodmer und Breitinger aus Zürch stammten, wird dieser Disput auch als Zürcher Gelehrtenstreit bezeichnet.
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Innerhalb der Eidgenossenschaft existierten auch Befürworter für Gottscheds Sprachreform. In Tscharners Heimatstadt war es beispielsweise ein Teil der Deutschübenden Gesellschaft geführt von Johann Georg Altmann.
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Auch Hallers Gedichte wurden von der Leipziger Schule, wie die Gottschedianer auch genannt wurden, kritisiert. Zu Beginn lobte Gottsched Hallers poetische Werke, revidierte später aber seine Meinung. Trotz dieser Ablehnung hatte Haller auch weiterhin Befürworter seiner Gedichte ausserhalb der Eidgenossenschaft.
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Auch unter den Gottschedianern finden sich einige, welche Hallers Werke lobten. Zu nennen sind beispielsweise Christian Fürchtegott Gellert, Abraham Gotthelf Kästner oder Johann Elias Schlegel.
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Offiziell hielt sich Haller im Zürcher Gelehrtenstreit zurück. An Tscharner schrieb Haller, genau wie in seiner Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann oder Eberhard Friedrich von Gemmingen, dass er sich nicht am Streit beteilige.
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Dennoch taucht der Name Gottsched immer wieder in der untersuchten Korrespondenz auf.
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Trotz mehrfacher Erwähnung erscheint der Zürcher Gelehrtenstreit nie als das dominierende Thema im Briefwechsel, was daran liegen könnte, dass der Disput bereits 1740 seinen Höhepunkt erreicht hatte, vor dem Beginn der Korrespondenz zwischen Haller und Tscharner. Vielleicht mischte sich Haller mehr in den Zürcher Gelehrtenstreit ein, als er selber in der Öffentlichkeit zugeben wollte.
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In der Korrespondenz mit Paul Gottlieb Werlhof äusserte sich der Göttinger Professor relativ offen über das Thema Gottsched.
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Auch anonyme Rezensionen in den Göttingische[n] Anzeigen von gelehrten Sachen, welche gegen Gottsched gerichtet waren, stammen möglicherweise aus Hallers Feder. Auch wenn die Autorenschaft dieser Kritiken nicht vollständig irgend einer Person zugeordnet werden kann, so ist zu betonen, dass Haller zwischen April 1747 und Frühjahr 1753 Redaktor dieser Zeitschrift und somit für deren Inhalt verantwortlich war.
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Dass sich Haller zumindest offiziell bewusst aus dem Streit heraus hielt, könnte vor allem daran liegen, dass er sich eher als Wissenschaftler denn als Dichter betrachtete.
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Genau wie Haller betrachtete sich Tscharner selbst ebenfalls nie als Dichter. Er verfasste einige Verse wie beispielsweise Freundschafftliches Geschenke oder den Beitrag in den Abhandlungen der Oekonomischen Gesellschaft Von der Wässerung.
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In den Briefen an Haller finden sich zudem kurze deutsche Reime.
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Haller schrieb dagegen nie in Versform zurück und es scheint, dass er ein sehr ambivalentes Verhältnis zu seiner Poesie pflegte.
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Dennoch verbesserte er seine Gedichte kontinuierlich. Seit der Erstpublikation der Versuch Schweizerischer Gedichte im Jahre 1732 folgten immer wieder überarbeitete Neuauflagen.
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Haller mahnte 1748 Tscharner, dass er keine alte Version bei der Übersetzung verwenden solle und er bereits an einer neuen Version arbeite.
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In den Überarbeitungen wurde zunehmend auf Helvetismen verzichtet und die Verse wurden immer mehr an einer allgemeineren und künstlichen deutschen Sprache angepasst.
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Diese Angleichungen stehen im Gegensatz zu Vinzenz Bernhard Tscharners Geschichtswerk über die Schweiz. Er verwendete bewusst altmodische Ausdrücke und vor allem viele Helvetismen für seine Schweizer Historie.
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Im Streit mit den Gottschedianern spielte auch Friedrich Gottlieb Klopstock eine bedeutende Rolle. Johann Jakob Bodmer betrachtete ihn als seinen Protegé. Auch Tscharner bewunderte diesen deutschen Dichter.

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Bodmer wollte nicht nur Klopstock, sondern auch Tscharner unter seine Fittiche nehmen. Es scheint, dass der Zürcher Literaturexperte im Gegensatz zu Haller gerne die Rolle des Mentors einnahm. Auf Bitten Bodmers übersetzte Tscharner den Messias von Klopstock. Dieser brauchte jedoch für sein gesamtes Gedicht 28 Jahre, deswegen wurden von Tscharner nur die ersten drei Kanone übersetzt. Obwohl Klopstock berichtete, dass er nach Zürich reise, um Bodmer zu besuchen, trafen sich Tscharner und Klopstock nie. Der wahrscheinlichste Grund dafür war, dass sich die Gebrüder Tscharner in der Zwischenzeit mit Bodmer wegen seines anonym veröffentlichten Gedichtes Noah zerstritten hatten.
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Der Disput wurde zwar beigelegt, aber Bodmer behandelte die Gebrüder Tscharner von diesem Zeitpunkt an eher abschätzig und kühl. So informierte Bodmer die Tscharners beispielsweise recht spät über den Besuch von Klopstock in Zürich. Vinzenz Bernhard Tscharner wusste zwar, dass dieser in Zürich weilte, aber musste sich auf die kommende Grand Tour vorbereiten.
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