Gallotropismus, Übersetzungen und Raubdrucke
Tscharners Übersetzungen von Hallers Gedichten ins Französische waren ursprünglich als eine Unterhaltung respektive als eine Übung gedacht.
In den Biographien über Vinzenz Bernard Tscharner von Gustav Tobler und
Enid Stoye
wird vor allem seine patriotische Gesinnung betont und sein Versuch,
die Helvetische Kultur zu verbreiten, oder zumindest dieser ein Gesicht zu geben.
In den Augen der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts verblasste diese gegenüber der französischen Kultur,
welche ganz Europa überspannte und bis an den Hof von St. Petersburg reichte.
In diesem Zusammenhang können Tscharners Übersetzungen als ein ebensolcher Versuch gesehen werden.
Um die wertenden und dennoch geläufigen Begriffe wie Francophilie oder Francophobie zu umgehen,
eignet sich die neutrale sowie sachliche Bezeichnung des Gallotropismus.
Diese Definition kann auch auf die Korrespondenz respektive die Einstellung von Haller und Tscharner angewendet werden.
Einerseits korrespondierten beide auf Französisch und waren auch weiteren kulturellen francophonen Einflüssen ausgesetzt.
Andererseits gab es konfessionelle sowie kulturelle Unterschiede.
Zudem etablierte sich die englische Kultur im 18. Jahrhundert immer mehr und relativerte den Gallotropismus.
Auch die deutsche Sprache wurde im Verlaufe des 18. Jahrhunderts immer populärer.
Zudem zeigten sich in der Schweiz in dieser Zeit Anzeichen eines Nationalbewusstseins und einer eigenen Identität.
So ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen,
dass Tscharner im Januar 1749 plante, ein Geschichtswerk über die Eidgenossenschaft zu schreiben.
Gerade Tscharners Übersetzungen von Hallers Gedichten sollten in diesem Kontext betrachtet werden.
Erste Versuche für eine französische Übersetzung von Hallers Gedichten fertigte Tscharner bereits 1746 an.
Er sandte in der Folge einige in seinen Augen mittelmässige Verse vom Gedicht über die Ehre (La Gloire)
zuerst an seinen Freund Rudolf Sinner.
Tscharners Hauslehrer, Johann Stapfer,
ermutigte ihn mit den Übersetzungen fortzufahren und überredete ihn,
das übersetzte Gedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden
(l’Epître à M. le professeur Stähelin, sur la fausseté des vertus humaines)
nach Amsterdam an die Zeitschrift Bibliotheque raisonnée des ouvrages des Savans de l’Europe zu senden.
Als die Verse 1747 publiziert wurden, kontaktierte Tscharner in einem ersten Brief Haller und erwähnte,
dass es Stapfer war, der ihn dazu motivierte, das übersetzte Gedicht nach Amsterdam zu senden.
Diese Translation fand bei Johann Jakob Bodmer offensichtlich grosse Anerkennung.
Trotz solcher positiven Rückmeldungen blieb Haller recht skeptisch und befürchtete,
dass eine schlechte oder mangelhafte Übersetzung in Frankreich, seinem Ruf schaden könnte.
Dennoch drängte Tscharner Haller auf eine weitere Publikation seiner übersetzten Gedichte und
brachte Jean Bertrand als Korrekturleser ins Spiel.
Obwohl der junge Übersetzer Tscharner schon vorher ohne Zustimmung Hallers ein Gedicht veröffentlicht hatte,
hielt er sich dieses Mal zurück.
Im April 1749 antwortete Haller auf Tscharners Drängen und erwiderte offen,
dass Bertrand wegen des Status von Tscharners Familie vielleicht nicht offen urteilen könne und schlug vor,
nur ein weiteres Gedicht zu publizieren und die Reaktion darauf abzuwarten.
Die Rückmeldungen auf das im Mai 1749 erschienene übesetzte
Gedicht Les Alpes waren positiv.
Durch diesen Erfolg motiviert, versuchte Tscharner auch weitere Übersetzungen von Hallers Gedichten zu veröffentlichen.
Dieser stimmte letztlich zu, betrachtete es aber als notwendig,
dass zur Publikation seiner übersetzten Gedichte auch ein Vorwort von ihm erscheinen sollte und ging somit das Risiko ein,
dass, wenn er eine Einleitung zu den Übersetzungen verfassen würde, er sein Inkognito verlieren wird.
Die Leser würden wissen, dass Haller von den Übersetzungen nicht nur wusste, sondern diesen auch zustimmte.
Im Frühjahr 1750 kam der Gedichtband
Poésies choisies de M. de Haller, traduites en prose par M. de. T.
beim Göttinger Verleger Abraham Vandenhoeck
heraus und wurde an der Ostermesse in Leipzig ein Erfolg.
Baron Friedrich Melchior von Grimm kritisierte gegenüber Haller,
dass die Gedichte vom Original ziemlich abweichen würden,
dies aber für das französische Publikum ausreiche.
Auch Tscharner wusste, dass sein Übersetzungswerk noch verbesserungswürdig war und schrieb an Haller,
dass er bereits an einer neuen Version arbeite.
Überarbeitete französische Versionen von Hallers Gedichten, welche offiziell von Tscharner stammten,
folgten 1760 und 1775.
Diese waren aber nicht die einzigen Übersetzungen.
In der Korrespondenz berichtete Tscharner an Haller von einem gewissen Herr Werdmüller,
welcher versuchte, das Gedicht Doris zu übersetzen.
Neben Übersetzungsversuchen,
welche nie gedruckt wurden, existieren auch Gedichte, welche zwar ursprünglich aus Tscharners Feder stammten,
aber ohne seine offizielle Zustimmung publiziert wurden.
Als Vandenhoeck in Göttingen die
Poésies choisies de M. de Haller 1750 gedruckt hatte,
erschien im gleichen Jahr im Verlag Heidegger & Co.
in Zürich ein erster Raub- respektive Nachdruck.
Gerüchte oder sogar Informationen dazu tauchten bereits im Sommer 1749 auf.
Tscharner gab seinem Lehrer, Johann Stapfer,
die Schuld, da durch diesen die Gedichte nach Zürich zu Johann Heidegger gelangten.
Haller reagierte allerdings erst 1750 darauf und prangerte die
Fälschung (contrefaction) aus verschiedenen Gründen an.
Erstens ging es um die Konditionen zwischen Abraham Vandenhoeck in Göttingen und Hallers Bruder,
Niklaus Emanuel, in Bern. Durch den Raubdruck von Zürich entstand für diesen eine ernsthafte Konkurrenz.
Zweitens sah Haller darin eine Ehrverletzung, dass Heidegger ohne Tscharners oder seine Zustimmung dieses Werk publizierte.
Zudem erkannte er die Gefahr, dass wenn der Autor und der Übersetzer nicht einbezogen waren, ein mangelhaftes Werk unter ihren Namen erscheinen könnte.
Tscharner versuchte, seine Vorbehalte und Befürchtungen zu relativieren.
Im Gegensatz zu Haller verwendete Tscharner in seinen Briefen nicht den Ausdruck Fälschung,
sondern das Wort Nachdruck (réimpression).
Er erklärte, dass Vandenhoeck durch die Zürcher Version wahrscheinlich keinen Schaden erleiden werde,
und gab damit seiner Hoffnung auf eine potenziell hohe Nachfrage nach diesen Werken Ausdruck.
Dieses Vorgehen, Werke nachzudrucken, wurde im 18. Jahrhundert aus wirtschafts- und kulturpolitischen
Gründen vielerorts toleriert oder zum Teil sogar gefördert.
Die billigeren Drucke gewisser Publikationen ermöglichten zudem meist eine flächendeckende Verbreitung.
Die Nachdrucker können daher auch als Verbreiter der Aufklärung betrachtet werden.
Der Raubdruck von Hallers Übersetzungen erscheint somit als Förderung der helvetischen Kultur und lag damit in Tscharners ursprünglichem Interesse,
obwohl er sich in den Briefen an Haller darüber brüskiert zeigte.
Zudem ist zu betonen, dass er mit seinen Übersetzungen kein Geld verdiente.
Haller hingegen musste aufpassen, dass er seinen Verleger in Göttingen nicht verärgerte.
Auch die Geschäfte seines Bruders musste Haller beschützen.
Trotz dieses potenziellen Interessenskonfliktes zwischen den beiden Korrespondenten spitzte sich die Situation nicht weiter zu.
Im Herbst 1750 schrieb Tscharner einen verständnisvollen Brief und stellte sich auf die Seite Hallers.
Im Kontext der französischen Gedichtübersetzungen in der Korrespondenz zwischen Tscharner und Haller fallen mehrere Aspekte auf.
Einerseits zeigt es, dass die alte Eidgenossenschaft
als eine Mediatrix zwischen dem francophonen und dem deutschen Sprachraum diente.
Daneben erscheinen auch Holland als ein weiterer kultureller Vermittler oder Drehscheibe,
da dort die ersten übersetzten französischen Verse von Hallers Gedicht (Die Falschheit menschlicher Tugenden) publiziert wurden.
Es verdeutlicht zudem, dass die Protagonisten dieser Forschungsarbeit (darunter vor allem Haller)
einige Vorurteile gegenüber der französischen Kultur hatten.
In anderen Korrespondenzen äusserte Haller offener seine Meinung gegen die Franzosen.
Für seine Vorurteile existierten mehrere Gründe.
Neben den bereits erwähnten konfessionellen Unterschieden ist sicherlich auch der französische aristokratische Lebensstil zu erwähnen,
den Haller als oberflächlich und egozentrisch kritisierte und als eine Gefahr für eine Republik wie Bern betrachtete.
Seine Abneigung zeigte er aber eher im vertrauten Freundeskreis.