Klientelismus und Freundschaft – Die Korrespondenz zwischen Albrecht von Haller und Vinzenz Bernhard Tscharner
Herausgegeben von Raphael Germann, hallerNet 2019

Wahlen, Korruption und Reformversuche

Es scheint kein Zufall gewesen zu sein, dass Marianne von Haller und Franz Ludwig Jenner kurz vor Ostern heirateten. Denn Haller musste für die Wahlen nach Bern reisen. Zudem konnten solche Verbindungen für politische Angelegenheiten sehr nützlich sein. Die Sechzehner konnten beispielsweise für den Grossen Rat Personen nominieren, wobei auch nahe Verwandte erlaubt waren; dazu zählten auch Schwiegersöhne. Deshalb waren die ledigen Töchter der Sechzehner vor jeder Wahl sehr begehrte Heiratskandidatinnen, da diese das Barett, die Kopfbedeckung der Ratsherren, als Mitgift in die Ehe bringen konnten. Sobald die Anzahl der Mitglieder im Grossen Rat auf etwa 200 verringert war,

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wurden neue Wahlen abgehalten, um die freien Sitze wieder auf 299 zu ergänzen; dies geschah ungefähr alle zehn Jahre.
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Die Ergänzungen für den Kleinen Rat wurden jedoch häufiger durchgeführt. Gegenüber den einträglichen Ämtern (Vogt, Schultheiss, etc.), deren Amtszeiten begrenzt waren, bekleideten die Ratsherren im Kleinen- und Grossenrat ihre Sitze oftmals bis zum Tod. Eine Ausnahme davon war allerdings, wenn ein Ratsherr seine politische Mündigkeit verlor.
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Tscharner informierte Haller beispielsweise über Beat Ludwig Mays Fehlverhalten und seine Degradierung, obwohl May mit Haller korrespondierte, taucht sein Name in den untersuchten Briefen nicht mehr auf.
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Das Thema Korruption wurde aber nochmals aufgegriffen. Tscharner berichtete Haller über die Vorschläge, welche im Grossen Rat diskutiert wurden, um die Korruption zu bekämpfen.
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Beide erkannten auch die Probleme für die Besetzung des Rates sowie die Notwendigkeit von Reformen.
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Hierbei konnte die Oekonomische Gesellschaft von Bern eine gewisse Plattform für Erneuerungen bieten.
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Im Oktober 1766 zitierte der Schultheiss Johann Anton Tillier im Namen des Grossen Rates den Präsidenten der Oekonomischen Gesellschaft, Albrecht von Haller, zu sich. Der Vorwurf lautete, dass sich die Sozietät illegalerweise in politische Belange eingemischt habe. Der Stein des Anstosses war eine publizierte Arbeit des Sekretärs der Zweiggesellschaft in Vevey, Jean-Louis Muret. Dieser veröffentlichte demographische Daten über die Bevölkerung der Waadt. Der Ursprung dieser Affäre fand sich in der These des Arztes Samuel Auguste Tissot. Dieser behauptete, dass die Bevölkerung der Waadt sich verringere.
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Tscharner wies 1763 in der Vorrede der Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft auf diesen Bevölkerungsrückgang hin. Genaue öffentliche demografische Daten fehlten zu dieser Zeit in Bern. Die Oekonomische Gesellschaft griff dieses Problem 1763 auf und verband die Datenerhebung mit einer Preisfrage.
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Auch der Grosse Rat konnte überzeugt werden, eine Untersuchung durchzuführen. Die Almosen Revisions-Kommission, in der auch Tscharner sass, wurde 1764 beauftragt, eine Volkszählung durchzuführen. Muret verglich das Ergebnis dieser nicht veröffentlichten demographischen Untersuchung der Kommission mit den Auswertungen von Zeitreihen der Taufregister aus 46 Kirchgemeinden und bestätigte, dass die Bevölkerung abnahm. Als er in der Abhandlung über die Bevölkerung der Waat nicht nur die Fakten, sondern auch deren Ursachen präsentierte, kritisierte er damit indirekt auch die Berner Regierung. In Murets Augen war vor allem der Solddienst für die Bevölkerungsabnahme verantwortlich. Zusätzlich provozierte auch die Einleitung der Publikation der Oekonomischen Gesellschaft den Grossen Rat, indem erklärt wurde, dass eine wachsende Bevölkerung auf eine gute Verwaltung hinweise. Durch den Umkehrschluss lässt sich folgern, dass sinkende demographische Werte ein Anzeichen für eine unfähige Regierung seien. Der Grosse Rat selber nahm keinen Bezug auf diese negative Beurteilung, sondern kritisierte wiederum, dass Muret auf die Ergebnisse der unveröffentlichten Volkszählung hinwies. Aus ihrer Sicht ermöglichten Bevölkerungsdaten Rückschlüsse auf die militärische und wirtschaftliche Stärke eines Landes, deshalb wurden diese Informationen auch als Staatsgeheimnis deklariert und nicht publiziert. Die Oekonomische Gesellschaft und Jean-Louis Muret wurden dafür gerügt und die Zweiggesellschaft in Vevey wurde fortan überwacht. Haller und Tscharner korrespondierten nicht über dieses Thema, obwohl sie beide involviert waren. Eine schriftliche Kommunikation erschien vielleicht auch nicht notwendig, da sie beide zu dieser Zeit in Bern verweilten. Im Oktober 1766 berichtete Haller Tissot über das Treffen mit Tillier. Hierbei erwähnte Haller, dass er als Präsident der Oekonomischen Gesellschaft darauf hinwies, dass Missstände nur bekämpft werden können, wenn diese offen dargelegt würden.
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Tscharner wiederum klagte bei Zimmermann über diesen Vorfall und informierte auch, dass allen Bernern die Teilnahme an der Versammlung der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach untersagt worden war.
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Die Obrigkeit reagierte allerdings relativ mild.
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Im selben Jahr erschien eine weitere demographische Untersuchung eines weiteren Waadtländer Pfarrers, Charles-Louis Loys de Cheseaux. Dieser Beitrag wurde aber von der Oekonomischen Gesellschaft entschärft respektive relativiert.
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In den gedruckten Abhandlungen der Sozietät tauchten immer wieder Themen auf, welche auch die Politik betrafen. Manchmal wurden nur Andeutungen gemacht, ohne die Regierung zu kritisieren. Tscharner wies in einer Vorrede der Abhandlungen der Oekonomischen Gesellschaft darauf hin, dass die Zahl der regimentsfähigen Berner Familien abnahm. Ein Jahr später machten er und eine weitere Person im Grossen Rat einen Vorstoss und forderten, dass neue Burger aufgenommen werden sollten, um dieser Tendenz entgegenzuwirken.

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In der untersuchten Korrespondenz finden sich dazu keine Anhaltspunkte. Niklaus Emanuel Tscharner führte aber diesbezügliche Statistiken, welche bestätigten, dass sich die Zahl der regimentsfähigen Familien verringerte. Seine Untersuchungen respektive Vinzenz Bernhard Tscharners Vorschläge, das Burgerrecht für andere Geschlechter zu öffnen, wurden in der Oekonomischen Gesellschaft nie offen behandelt.
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Auch die Quote der regierungsfähigen Familien minimierte sich gegen Ende des 17. und während des 18. Jahrhunderts. Durch Reichtum, Kooptation und Nominationsrecht kapselten sich die Regierenden immer mehr von den restlichen regimentsfähigen Burgern ab. Aus diesem Grund war es möglich, dass Patrizierfamilien aus der untersten Kategorie, wie beispielsweise die Familie Haller, ihren Einfluss im Rat respektive in der Politik verlieren konnten.
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Henziverschwörung

Die Probleme und Schwächen der Republik Bern waren für viele Zeitgenossen kein Geheiminis. Viele beobachteten diese Entwicklung argwöhnisch. Vor allem regimentsfähige, aber von der Regierung ausgeschlossene Berner Burger fühlten sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts immer mehr benachteiligt. In einem Memorandum von 1744 prangerten einige den Berner Rat und das Wahlsystem an und forderten mehr Partizipation an der Macht. Diese Bittschrift gelangte nie in den Rat, denn die Memorialisten wurden vorher verhaftet und bestraft. Samuel König, ein Mathematiker und ein Gegner der Gottschedianer, wurde beispielsweise für zehn Jahre aus der Republik Bern verbannt. Obwohl das Verhältnis zwischen Haller und König wegen ihrer politischen Diskrepanzen abgekühlt war, vermittelte er diesen, als er im Exil war, an die Universität Franeker.

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Unter den Verbannten befand sich zudem Samuel Henzi
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. Nach Aufdeckung der Memorandumaffäre von 1744 wurde er für fünf Jahre verbannt, wurde aber bereits 1748 begnadigt und kehrte nach Bern zurück. Nachdem er kurze Zeit als Unterbibliothekar in der Stadtbibliothek arbeitete, gab er die Stelle wieder auf. Die angeblich begehrte Stelle des Oberbibliothekars wurde währenddessen dem 19-jährigem Patrizier Johann Rudolf Sinner vergeben.
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Der Theologiestudent Friedrich Ulrich warnte am 2. Juli 1749 den Ratsherren Johann Anton Tillier, dass eine Gruppe von Verschwörern einen Staatsstreich plane. Zwei Tage später wurden Samuel Henzi, Emanuel Fueter, Samuel Niklaus Wernier und weitere angeblich Involvierte verhaftet. Obwohl die Verschwörung seinen Namen trägt, ist bis heute unklar, wie stark Samuel Henzi bei der Sache beteiligt war.

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Ungewiss ist auch, wie der Plan der Verschwörer ausgesehen haben könnte oder ob überhaupt eine konkrete Vorgehensweise abgemacht worden war. Nach ihrer Verhaftung gaben die Angeklagten zwar zu, dass sie sich zweimal getroffen und auch ein Memorial erarbeitet hätten, welches Forderungen an den Rat enthielt. Je nach Interpretation dieses Textes rief er zur Gewalt gegen die hohen Ratsherren auf. In einem Schnellverfahren des Grossen Rates wurden die Anführer verurteilt und am 17. Juli 1749 durch das Schwert enthauptet.
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Tscharner berichtete Haller am 31. Juli 1749 gegen Ende des Briefes über die Hinrichtungen. Haller schrieb erst am 17. Oktober 1749, genau drei Monate nach den Hinrichtungen, an Tscharner zurück und ging vielleicht nur indirekt auf die Henziverschwörung ein. Er berichtete über Gottsched, und dass dieser den Stil von seinen Landsleuten verabscheute.
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Diese Stelle des Briefes kann sich auf den Zürcher Gelehrtenstreit sowie die helvetische Sprache beziehen oder spielt vielleicht sogar auf die Exekutionen an. Zwar profitierte Gottsched durch den Tod Henzis, war aber sicherlich über dessen Enthauptung brüskiert. Mit der Verbannung von Samuel König und mit der Exekution von Henzi verlor Bodmer seine wichtigsten Berner Mitstreiter gegen die Gottschedianer. Zwar versuchte Bodmer Vinzenz Bernhard Tscharner für seine Sache zu gewinnen, dieser zeigte zwar auch Sympathie für die helvetische Sprache, aber sein Einsatz in dieser Debatte blieb eher mässig unter anderem auch wegen des bereits erwähnten persönlichen Zwists mit Bodmer 1751 (Noahhandel).
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Das öffentliche Interesse über die Henziverschwörung reichte weit über die Berner Grenzen hinaus. 18 Wochen nach dem Urteil waren bereits 130 Artikel in fünfzehn verschiedenen Zeitungen über diesen Fall im Umlauf. Die Meinungen in den Medien unterschieden sich. Während die einen die drakonischen Strafen gegen die Verschwörer guthiessen, verurteilten andere dieses Vorgehen. Vor allem stand die Form des Prozesses in der Kritik, welcher unter Geheimhaltung und in aller Eile durchgeführt worden war. Trotz vielen Gerüchten und Mutmassungen tauchten in der Presse immer wieder Informationen auf, welche auf ein gewisses Insiderwissen schliessen lassen. Am 9. August 1749 erschien in den zwei preussischen Zeitungen, Berlinische Privilegierte Zeitung und Berlinische Nachrichten je ein Artikel über die Henziverschwörung. Als Quelle wird ein “Extract eines Schreibens aus Bern vom 19. Julii” angegeben.

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Die Ausdrücke, die Reihenfolge der Informationen sowie zum Teil ganze Sätze dieses Artikels entsprechen den Passagen eines Briefes
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von Maria Magdalena Engel an Haller. Das Schreiben ist auf den 19. Juli 1749 datiert, zwölf Tage vor Tscharners Nachricht an Haller über die Exekutionen.
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Durch die Medien über dieses Ereignis informiert und dadurch inspiriert, versuchte der dazumals noch junge Gotthold Ephraim Lessing, ein Theaterstück über die Henziverschwörung zu schreiben. Obwohl dieses Werk unvollendet blieb, wurde 1753 ein Fragment dieses Theaterstücks in den Kritischen Briefen publiziert. Henzi erschien in diesem Abriss des Stückes als tragischer Held. Während sein Mitverschwörer Dücret, gemeint ist Jacques-Barthélémy Micheli du Crest, als rachsüchtiger und blutgieriger Fanatiker dargestellt wurde.

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In den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen
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kritisierte Haller am Fragment von Lessings Theaterstück, dass die Figuren falsch dargestellt würden und verteidigte hierbei vor allem Micheli du Crest. Dieser zeichnete sich als wissenschaftlicher Fachmann für Vermessungen und Thermometerbau aus. Während der angeblichen Verschwörung sass Micheli du Crest bereits im Gefängnis. Er wurde aber nach den Ereignissen von Bern nach Aarburg verlegt. Seine Forschungen durfte er dennoch fortsetzen und korrespondierte von seiner Zelle aus mit Haller.
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Wieso Lessing das Drama über die Henziverschwörung nie fertig schrieb, bleibt unklar. Hallers Kritik oder eine angebliche Intervention der Berner Regierung spielten offensichtlich keinen relevanten Grund. 1755 besuchte Tscharner Lessing in Leipzig.
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Zimmermann berichtete in zwei Briefen an Haller über dieses Treffen.
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Der Aufenthalt in Leipzig, die Rezension in den Göttinger Gelehrtenanzeigen sowie der Kontakt mit Micheli du Crest werden in der untersuchten Korrespondenz zwischen Tscharner und Haller mit keinem Wort erwähnt. Lessings Name taucht im Briefvekehr nur einmal auf. Als Autor von Kleinigkeiten wird er als ein Freund von Klopstock vorgestellt.
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Die Henziverschwörung an sich scheint in der Korrespondenz zwischen Haller und Tscharner in der Folge kaum von Bedeutung gewesen zu sein. Trotzdem taucht dieses Thema zwischen 1749 und 1752 immer wieder auf. So spielt auch ein gewisser Hans Rudolf Wyss, welcher wegen des Burgerlärms ins Exil verbannt wurde, eine Rolle. Als entfernter Verwandter, durch seine erste verstorbene Frau, Marianne Wyss, fühlte sich Haller verpflichtet, ihm zu helfen. Er wollte sich bei Tscharner über seinen Charakter informieren.

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Tscharner konnte keine Informationen über Wyss ausfindig machen, mahnte Haller aber zur Vorsicht.
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In den gleichen Briefen, als Wyss ein Thema war, dominierte vor allem die Auflösung der Verlobung von Marianne Haller und Vinzenz Frisching die Korrespondenz.
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Der Verdacht kommt auf, dass es Hallers Absicht war, so zu zeigen, dass er politisch doch nicht so machtlos war. So konnte er Verbannten, aber auch anderen Landsleuten im Ausland immerhin akademische Stellen vermitteln. Durch die Erkundigung des Charakters erschien die Geste nicht als Bedrohung, aber zeigte sich wirksam genug, um einen gewissen Eindruck zu machen. Es ist nicht klar, ob Haller schliesslich Wyss half oder nicht.
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Gegenüber Tscharner äusserte sich Haller nur ein einziges Mal negativ über die Henziverschwörung. Er schrieb, dass sich Samuel König in Holland befand und dieser einige Informationen nach Göttingen schrieb, welche die Verschwörung von 1749 betreffen, aber unterliess es, im Brief zu erwähnen, dass er König dazumal nach Franeker vermittelte. Eine Zeile später im selben Schreiben berichtete Haller, dass Voltaire in Berlin war.
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Philosophes

Voltaire, Rousseau, etc. werden auch als sogenannte Philosophes bezeichnet. Dieser Ausdruck beschreibt eine Gruppe von deistischen oder materialistischen Denkern und Schriftstellern während der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts.

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Allerdings existiert mehrere Definitionen von Philosophes, und der Begriff wird wie beim Ausdruck Gelehrtenrepublik sehr unterschiedlich interpretier- oder dehnbar verwendet.
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Haller sowie Tscharner gelten zwar nicht als Philosophes, können aber zu den Aufklärer gezählt werden.
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Das Erdbeben von Lissabon (1. November 1755) interpretierten die Philosophes, Aufklärer und Theologen unterschiedlich. Der gläubige Haller deutete Katastrophen “als Werkzeuge der Vorhersehung, die den Menschen auf die Ewigkeiten verweisen sollen.”

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Voltaire hingegen stellte eine perfekte Welt sowie Gott selbst in Frage. Aus diesen Gründen betrachtete Haller seit diesem Zeitpunkt, obwohl er ihn schon vorher kritisiert hatte, Voltaire als seinen weltanschaulichen Hauptgegner.
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Trotz allem existieren in Hallers Korrespondenz dreizehn Briefe, welche er mit diesem Schriftsteller austauschte. Voltaire bat ihn unter anderem bei einem Verlegerstreit (Saurin-Handel) um Unterstützung. Haller mahnte zur Gelassenheit und betonte, dass er keinen Einfluss darauf nehmen könne. In der untersuchten Korrespondenz finden sich zwei kurze Passagen zu diesem Streit.
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Tscharner las Voltaire, kritisierte aber dessen Werke. In Briefen an seinen Jugendfreund Johann Rudolf Sinner, bezeichnete er Voltaire als überheblich und arrogant, und dass die meisten Menschen Voltaires Texte nur lesen, weil sie dazugehören wollten und nicht weil sie seine Werke liebten.
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Nicht nur Voltaires sondern auch die Ansichten von Rousseau zur Religion blieben für Haller zeitlebens fremd. Genau wie bei Voltaire betrachtete sich Friedrich II. auch als Schutzherr von Rousseau. Deshalb floh dieser im Juli 1762 in das preussische Fürstentum Neuenburg. Tscharner war ein begeisterter Leser seiner Werke und besuchte ihn zusammen mit Daniel Fellenberg und Frédéric-Samuel Osterwald im August 1762 heimlich in Môtier. Auch weitere Personen in Bern sowie Bekannte von Haller waren überzeugte Rousseau-Leser. Nicht weniger als 32 Korrespondenten von Haller standen persönlich in Kontakt mit diesem Philosophen. Als offene Rousseau-Gegner bekannten sich hingegen Horace-Bénédict de Saussure und Charles Bonnet. Auch Haller zählte zu seinen Kontrahenten, hielt sich aber mit der Kritik eher zurück. An Tissot schrieb er, dass er sich nur gegenüber Freunden zu Rousseau negativ geäussert hätte.
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Johann Georg Zimmermann, ein begeisterter Leser von Rousseau, erwähnte ihn mehrmals in der Korrespondenz mit Haller, bis er durch Julie Bondeli erfuhr, dass Haller diesen Autor nicht mochte.
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Einen ähnlichen Fauxpas gegenüber Haller lieferte auch Tscharner als er den Göttinger Professor mit Alexander Pope verglich.
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Es ist nicht klar, ob Tscharner dies bemerkte, auf alle Fälle erwähnte er diesen Namen in der bekannten Korrespondenz mit Haller nie mehr. Beim Rezensieren der Werke von Voltaire und Rousseau versuchte Haller stets differenziert und unparteiisch zu bleiben. Er kritisierte zwar die Weltanschauung dieser beiden Philosophen, aber lobte ihre poetische Sprache.
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Obwohl unter dem Strich die Schönen Künste wie Literatur und Poesie immer wieder das dominierente Thema in der Korrespondenz zwischen Haller und Tscharner war, scheint es, dass die Namen gewisser Literaten in den Briefen eher vermieden werden. Voltaire taucht viermal in den untersuchten Briefen auf, während Pope und Rousseau lediglich zweimal erwähnt werden. Julien Offray de la Mettrie, ein weiterer weltanschaulichen Gegner Hallers, wird beispielsweise kein einziges Mal in der Korrespondenz mit Tscharner genannt. Andererseits sollten diese Erwähnungen/Nichterwähnungen in den Briefen nicht allzu gross gewichtet werden. So werden weitere Literaten, welche die Korrespondenten schätzten und empfahlen, wie beispielsweise Samuel Richardson oder Joseph von Petrasch, zum Teil nur ein- bis dreimal erwähnt.

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