Klientelismus und Freundschaft – Die Korrespondenz zwischen Albrecht von Haller und Vinzenz Bernhard Tscharner
Herausgegeben von Raphael Germann, hallerNet 2019

Auflösung der Verlobung

Als 1751 die Verlobung zwischen Albrecht von Hallers Tochter, Marianne und Vinzenz Frisching aufgelöst wurde, erschien die Angelegenheit für Vinzenz Bernhard Tscharner relativ unangenehm, da Frisching sein Freund war. Als dieser in Göttingen studierte, sandte Tscharner die Neuigkeiten aus Bern für Haller an Frisching.

203
Die Gebrüder Tscharner und Stapfer absolvierten mit ihm auch die Grand Tour und Haller erkundigte sich hierbei in einem Brief nach Frisching. Tscharner richtete am 15. März 1751 von diesem, respektive von der ganzen Reisegruppe, einen Gruss aus. In einem späteren Brief an Tscharner werden Vorwürfe von Haller erkennbar, dass sich Frisching nicht melde. Als Vorwand für Hallers Kontaktaufnahme – die Verlobung war zu diesem Zeitpunkt noch ein Geheimnis – diente ein Buch, das er an Frisching sandte.
204
Auch in den kommenden Monaten erhielt Haller keine Nachricht vom Verlobten seiner Tochter und hegte den Verdacht, dass Frisching absichtlich nicht auf seine Nachrichten reagierte. Im Herbst 1751 befand sich Johann Georg Zimmermann auf der Rückreise von den Niederlanden in die Schweiz. Haller bat seinen Lieblingsschüler, einen Umweg über Paris zu machen, um nach Frisching zu sehen und diesen, falls nötig, zur Rede zu stellen. Zimmermann traf zwar die kleine Reisegruppe an, aber Vinzenz Frisching war eine Woche zuvor bereits weitergereist. In einem persönlichen Gespräch mit Johann Stapfer erfuhr Zimmermann, dass Frisching ihn in seine Heiratspläne eingeweiht hatte. Dieser erklärte, dass er für eine Hochzeit mit Marianne noch seine Mutter sowie seine Brüder
205
davon überzeugen muss.
206
Zimmermann beschloss Vinzenz Berrnhard Tscharner in diese Angelegenheit einzuweihen, unter anderem auch, weil Haller eine hohe Meinung von Tscharner hatte.
207
Obwohl Vinzenz Frisching nichts von seiner Verlobung gegenüber Vinzenz Bernhard Tscharner erwähnte, wusste oder vermutete dieser zumindest von dessen Hochzeitsplänen. Tscharner vertraute Zimmermann an, dass vor seiner Abreise aus Bern einer der älteren Brüder Frischings zu ihm gekommen sei. Dieser erklärte ihm, dass Vinzenz Frisching Verpflichtungen eingegangen sei, die nicht mit den Familieninteressen zu vereinbaren seien.
208
Tscharner erklärte sich gegenüber Zimmermann bereit, eine Ehe zwischen Vinzenz Frisching und Marianne Haller zu unterstützen.
209
Zurück in Bern, stellte Tscharner seinen ehemaligen Reisebegleiter zur Rede und bot Haller für diese Angelegenheit seine Vermittlungsdienste und auch die Hilfe seines Vaters, Emanuel Tscharner, an.
210
Haller erklärte in einem Brief, wie es dazumal zu dieser Verlobung gekommen war und erwähnte gegenüber Frisching von den Problemen, welche eine solche Liason mit sich bringen werde und dass er auf die Wünsche seiner Mutter und den Patron seiner Familie, Johann Anton Tillier, achten muss.
211
Diese Beschreibung der Situation zeigt deutlich, dass in der Frühen Neuzeit mit einer Vermählung nicht nur zwei Personen, sondern auch zwei Familien verbunden wurden. Im allgemeinen Gedankengut dieser Zeit erschien es üblich, dass sich die Eheleute zwar liebten, aber nicht, dass die gegenseitige Zuneigung Voraussetzung einer Heirat war, sondern dass sich die Liebe erst in der Ehe nach der Hochzeit entfaltete. Andererseits bildete sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Vorstellung einer Liebesheirat heraus. Diese Idee wurde auch in der zeitgenössischen Literatur verarbeitet. Zwischen dem Ideal und der Realität existierte aber eine Diskrepanz. Der Wandel in der Gesellschaft mit der Vorstellung von einer Zweck- zu einer Liebesheirat vollzog sich allerdings sehr langsam.
212
Die Auflösung der Verlobung zwischen Vinzenz Frisching und Marianne Haller erscheint gerade für jene Epoche als Paradebeispiel. Zwar liebten sich die beiden, aber schlussendlich musste Vinzenz Frisching den Familieninteressen den Vorzug geben. Als Vinzenz Bernhard Tscharner die Familie Frisching ein zweites Mal aufgesucht hatte und Haller davon berichtete, wird durch den Brief deutlich, wie stark die Familie sowie die öffentliche Repräsentation eine Rolle bei einer Vermählung im 18. Jahrhundert spielte. So sprach Tscharner zuerst mit seinem Freund Vinzenz Frisching persönlich und warnte ihn vor seinem Verhalten und der Reaktion der Öffentlichkeit. Dieser erwiderte, dass er seinen Fehler erkannt habe, aber dass er mit der Auflösung der Verlobung grösseres Unglück vermeiden wolle, da Marianne nicht das bei ihm fände, was er ihr dazumal versprochen habe und erklärte auch, dass er seine Mutter mit dieser Verlobung beleidigte. Tscharner suchte anschliessend das Gespräch mit dessen älteren Bruder, Albrecht Frisching. Dieser erklärte, dass wenn sein Bruder mit Marianne wirklich zusammen kommen wolle, er dies akzeptieren würde. Trotz dieser halbherzigen Zusage konnte Tscharner sein Ziel nicht erreichen und kam zum Schluss, dass es sich bei Vinzenz Frisching nicht um eine unehrliche, sondern einfach um eine schwache Person handelte, welcher dem Ehrgeiz der Familie nicht entrinnen konnte.
213

Während dieser Zeit wird in der Korrespondenz zwischen Haller und Tscharner Frischingsname abgekürzt. Die Reduktion seines Namens erscheint als ein Zeichen der Verachtung. In den Augen der Korrespondenten verdiente es die Person nicht einmal, erwähnt zu werden. Sofern es in der vorhandenen Quellenlage ersichtlich ist, war es Tscharner, der zuerst Frischings Name auf den Anfangsbuchstaben kürzte. Dennoch schrieb er danach in der Korrespondenz mit Haller den Namen von Frisching in zwei Briefen bei der Ersterwähnung noch aus.

214
Haller hingegen verwendete in der Korrespondenz mit Tscharner ab Dezember 1751 nur noch die Abkürzung für Frisching.
215

Die beiden Treffen mit Vinzenz Frisching, welche vor allem die Diskussion um die ehemalige Verlobung zum Thema hatten, wird Tscharners Vermittlerrolle als Bekannter und Freund von Frisching und auch von Haller offenkundig. Im Moment, als der politisch noch unmündige Tscharner aus Enttäuschung bemerkte, dass seine Vermittlungsversuche bei der Auflösung der Verlobung nichts brachten, übergab er seinem Vater dieses Anliegen. Bereits im Schreiben vom 30. November 1751 bot er dessen Dienste an. Ohne Hallers Antwort darauf abzuwarten, denn der Brief vom 4. Dezember 1751 erscheint als Antwortbrief unmöglich, leitete Vinzenz Bernhard Tscharner weitere Schritte ein.

216
Emanuel Tscharner involvierte den Ratsherren Franz Ludwig Steiger, einen Förderer von Haller. Das Kommunikationsnetz in dieser Sache weitete sich aus, als die Magistraten Steiger und Tscharner beschlossen, auch den Onkel von Albrecht von Haller, Samuel Haller I. und Gottlieb von Diesbach einzubeziehen. Die vier Herren schrieben an den Patron der Frischingfamilie, Johann Anton Tillier, und baten ihn, mit Frisching zu verhandeln. Dieser spielte seinen Einfluss auf die Familie Frisching zwar herunter, aber versprach, einen Brief an die entsprechende Stelle zu senden. Steiger suchte selbst das Gespräch mit Vinzenz Frisching, er blieb aber erfolglos. Gemäss einem Brief von Maria Magdalena Engel an Haller, gab es weitere Unterredungen in dieser Sache.
217
Zwei Optionen wurden in Betracht gezogen oder zumindest in die Runde geworfen, aber nicht durchgeführt. So sollte der Onkel von Vinzenz Frisching, Franz Ludwig Stürler, kontaktiert werden, da er als der Drahtzieher hinter der Auflösung dieser Verlobung angesehen wurde. Zusätzlich kam die Idee auf, Vinzenz Frisching vor ein Chorgericht zu stellen und ihn zur Heirat zu zwingen. Dieser Vorschlag wurde aber schnell wieder verworfen.
218
Von den weiteren Unterredungen wusste Vinzenz Bernhard Tscharner wahrscheinlich nicht viel. Als er die Affäre in andere Hände übergab, verlor er auch die Kontrolle darüber.
219
Tscharner entschuldigte sich bei Haller, dass er ohne seine Zustimmung im Dezember 1751 seinen Vater und somit auch weitere Personen in diese Angelegenheit einbezogen hatte. Dadurch trug er dazu bei, was Albrecht von Haller unbedingt vermeiden wollte, dass die Auflösung der Verlobung zwischen Marianne Haller und Vinzenz Frisching zum Stadtgespräch wurde. Gemäss mehreren Quellen scheint dieses Thema in Bern tatsächlich – vor allem in den Monaten Januar und Februar 1752 – auf Interesse gestossen zu sein.
220
Die öffentliche Meinung schien eher gegen die Frischings zu tendieren.
221
Obwohl Haller gegenüber Tscharner den Verdacht erwähnte, dass das Mitleid gegenüber seiner Familie nur gespielt sei und die Bewohner Berns sich insgeheim darüber lustig machten.
222
Als Tscharner allerdings am 25. März 1752 an Haller schrieb, scheint die ganze Affäre bereits wieder verblasst gewesen zu sein.
223

Genau wie eine Heirat zwei Familien verband, wurden diese durch eine aufgelöste Verlobung auch wieder entzweit. Nicht nur Marianne wurde mit dieser Zurückweisung gekränkt, sondern in Hallers Augen war auch die Familienehre verletzt. Haller erwog deswegen sogar, in Göttingen zu bleiben und nicht mehr nach Bern zurückzukommen. Hierbei zeichnet sich eine Diskrepanz zwischen der Gelehrtenrepublik und der Berner Republik des 18. Jahrhunderts ab.

224

Republik Bern und Gelehrtenrepublik

Bei der Auflösung der Verlobung zwischen Vinzenz Frisching und Marianne Haller spielte nicht nur das unterschiedliche Vermögen,

225
sondern wahrscheinlich auch der höhere Rang, welche die Familie Frisching gegenüber der Familie Haller in Bern besass, eine Rolle. In einer Republik wie Bern waren theoretisch alle Bürger in der Stadt gleich. In der Realität sah es aber anders aus. Neben den Hintersassen gab es auch Bewohner mit dem Burgerrecht. Diese galten als regimentsfähig und hatten theoretisch ein Anrecht auf die Kandidatur für den Grossen Rat. Durch Kooptationswahlen, finanzielle Hürden, etc. war es nur einem Bruchteil dieser regimentsfähigen Burger möglich, einen Sitz im Rat zu bekommen. Diese Familien, Patrizier, galten somit nicht nur als regimentsfähig sondern auch als regierungsfähig. Bei diesen Magistratsfamilien existierten wiederum Unterschiede: So konnten diese in vier Kategorien aufgeteilt werden, Wohledelveste, Edelvest, Vest und das restliche Patriziat. Für Franz Ludwig Steiger, welcher der obersten Kategorie (Wohledelveste) angehörte, war die Zurückweisung von Frisching gegenüber seinem Freund Haller vor allem dadurch begründet, dass die beiden Familien unterschiedliche Ränge hatten. So schrieb Steiger an Haller, dass sich Frisching von seiner hohen Geburt zu viel einbilde.
226
Denn die Frischings gehörten zu den Vesten (der dritten Kategorie), während Hallers Familie zum restlichen Patriziat gehörte (der vierten Kategorie). Ihr drohte bei jeder Wahl das Ausscheiden aus dem Regiment, was einen sozialen Abstieg bedeutete. Das politische Gewicht der Frisching zeigte sich, als Maria Magdalena Engel an Haller schrieb, dass Personen, welche mit Marianne oder mit der Familie Haller sympathisierten sich mit Kritik, zumindest in der Öffentlichkeit, zurückgehalten hätten, da sie befürchteten, dass sich eine Einmischung in den kommenden Wahlen für den Grossen Rat für sie negativ auswirken könnte.
227
Vinzenz Bernhard Tscharner hingegen, dessen Familie zu den Edelvesten gehörte, konnte es sich politisch und gesellschaftlich leisten, seinen ehemaligen Freund, Vinzenz Frisching, für sein Verhalten zu kritisieren.
228
Für seine Loyalität war Albrecht von Haller ihm auch dankbar.
229

In der Antwort von Tscharner am 25. Mai 1752

230
wird deutlich, dass Haller, obwohl er in der Berner Politik eine untergeordnete Rolle innehatte, im europäischen Kontext erfolgreich und prominent war. Vor allem in der Gelehrtenrepublik genoss Haller eine hohe Reputation.
231
Im Vergleich zur Berner Republik
232
oder anderen europäischen Monarchien sowie Aristokratien erschien die Gelehrtenrepublik für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts als eine Meritokratie. Die Leistung, respektive der Beitrag zur Wissenschaft und das Wissen entschieden über den Rang in der Gelehrtenrepublik.
233
Genau wie in der Berner Republik existierte auch in der Gelehrtenrepublik ein Klientelismus. Hierbei erschienen diese Patron-Klientel-Beziehungen durch den meritokratischen Charakter dynamischer. Gemäss Hubert Steinke zeigen sich diese Abhängigkeiten vor allem in Disputen. Dadurch konnten Abhängigkeiten entstehen. So war Haller in der Lage, als Rezensent in seiner Göttinger Zeitschrift bewusst Publikationen zu fördern oder als gut vernetzter Gelehrter Karrieren mitzubestimmen.
234

Obwohl Albrecht von Haller europaweit einen hervorragenden Ruf als Gelehrter genoss, scheinen sein Einfluss und seine Stellung in Bern eher bescheiden gewesen zu sein. Johann Georg Zimmermann, welcher auch Berner und der Verfasser von Hallers erster Biographie war, festigte diese Ansicht. In Deutschland, England, Holland und Frankreich sei Haller bekannter als in seiner Heimatstadt. Wissenschaftliche Arbeit finde in Bern geringe Resonanz, sie gelte dort als verächtlich und lächerlich, da sie scheinbar keinen Einfluss auf das Wohlergehen der Republik hätte. Die Ursachen solcher Einstellungen der Elite in Bern gegenüber den Gelehrten glaubte Zimmermann darin zu erkennen, dass die Einwohner Berns Geburt und Vermögen einen höheren Stellenwert beimassen als allem anderen. Der Autor von Hallers Biographie scheint dabei auch aus seinen eigenen Erfahrungen berichtet zu haben. Auch Johann Jakob Bodmer zeichnete ein ähnlich negatives Bild, als er nach Hallers Tod an Samuel König schrieb, dass die herrschenden Geschlechter der Republik Bern den überragenden Geistesgrössen mit Herablassung und Verachtung begegneten. Dieses Bild wurde schliesslich auch mehrheitlich von der Geschichtsschreibung übernommen. Als Haller an Tscharner schrieb, dass er den Geschmack seiner Berner Patrizier kenne – vor allem den von Frisching – und dass er wisse, was diese von der Gelehrtenrepublik hielten, schien auch er – zumindest in diesem Moment – ein sehr negatives Bild von seiner Heimatstadt zu haben, zumindest was deren wissenschaftliche und kulturelle Seite betraf.

235
Allerdings sollte die Diskrepanz zwischen der Gelehrtenrepublik und der Monarchie respektive Aristokratie (oder Oligarchie) relativiert werden. Zwar stellte die Vorstellung der Meritokratie in der Republique de lettre ein gewisses subversives Potenzial für die ständische Ordnung dar, dennoch wollten die wenigsten Gelehrten einen politischen Umsturz. Auch Haller scheint bei politischen sowie konfessionellen Fragen eher moderat, wenn nicht sogar konservativ gewesen zu sein. Zudem wurden Leistungen, welche in einer Meritokratie eine bedeutende Rolle spielten, durch soziale Faktoren und Praktiken mitbestimmt. Hierbei spielte auch die Politik eine entscheidende Rolle. Für einige Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts schien die Gelehrtenrepublik eng verknüpft mit der Politik. Viele Adlige studierten beispielsweise Jurisprudenz und viele Juristen stiegen in den Adelsstand auf. Oft waren auch Personen mit einem Theologiestudium später als Staatsangestellte aktiv. So studierte auch Vinzenz Frisching Recht in Göttingen.
236
Zudem besass Hallers Meinung als Gelehrter in Bern ein gewisses Gewicht. Dies wird in der Korrespondenz erkennbar, als Tscharner Haller bat, seinen ehemaligen Hauslehrer Johann Stapfer zu unterstützen, um eine vakante Stelle bei der Nydeggkirche zu besetzen.
237

Rückkehr und Hochzeit

Trotz der Gegensätze sowie Gemeinsamkeiten respektive Verknüpfungen zwischen der Gelehrten- und der Berner Republik musste sich Albrecht von Haller entscheiden, ob er seine akademische Karriere an der Universität Göttingen weiterverfolgen oder nach Bern zurück ziehen wollte, um seine politische Laufbahn zu fördern. Als Haller am 27. September 1752 an Tscharner schrieb, erwähnte er zwar, dass er im Frühling des kommenden Jahres für die Wahlen nach Bern reisen werde, aber dass es ungewiss sei, ob er in seiner Heimatstadt bleiben oder nach Göttingen zurückkehren werde. Die meisten Punkte, welche für einen Verbleib in Göttingen sprachen, betrafen vor allem Wissenschaftsprojekte respektive die Gelehrtenrepublik. Neben Hallers Funktion als Magistrat und Gelehrter offenbart sich auch eine zusätzliche Rolle in diesem Brief, nämlich jene des Familienoberhaupts. Falls er in Göttingen blieb und seine politischen Pflichten in seiner Heimat vernachlässigte, riskierte Haller nämlich den Ausschluss seiner Nachkommen aus dem Berner Regiment. Es handelte sich also nicht nur um einen Entscheid zwischen einer akademischen und politischen Laufbahn, sondern auch um einen Entscheid, der die politische Zukunft seiner Familie in hohem Masse betraf. Wenn Haller an Tscharner schrieb, dass er noch einige Jahre der Wissenschaft widmen wolle, zumindest seine angefangenen Projekte beenden und erst später seinen Lebensabend auf einer lukrativen Vogtei verbringen möchte, vertraute er ihm somit seine Wünsche an.

238

Auch das Schicksal seiner Tochter bezog Haller offensichtlich in seine Entscheidung über eine eventuelle Rückkehr nach Bern mit ein. In Göttingen warben inzwischen fünf Männer um Mariannes Hand. Die erfolglosen Heiratskandidaten sind nur fragmentarisch bekannt, zum Teil schienen es auch nur Gerüchte gewesen zu sein.

239
Am 27. September 1752 schrieb Zimmermann an Haller, dass Franz Ludwig Jenner ein Interesse an Marianne hege. Dieser studierte zurselben Zeit wie Vinzenz Frisching in Göttingen, kannte Haller und dessen Tochter Marianne, aber war zu schüchtern, um diese damals anzusprechen. Nicht nur Haller, sondern auch Marianne stimmten schliesslich dieser Vermählung zu. Auch hier schienen wieder Familieninteressen im Spiel zu sein, denn bevor Marianne informiert wurde, gab es diverse Absprachen. Zimmermann wies Haller beispielsweise darauf hin, dass die Familie Jenner etwa das gleiche Vermögen sowie denselben Status wie die Frischings besitze, aber nicht so eingebildet sei. In späteren Briefen informierten Zimmermann und Maria Magdalena Engel über das genaue Vermögen und Hintergründe der Familie und die potenziellen politischen Karriermöglichkeiten von Franz Ludwig Jenner. Zudem berichtete sie, dass die Eltern von Jenner einer Vermählung ihres Sohnes mit Marianne von Haller zustimmen würden.
240

Erst mit dem von Marianne und Albrecht von Haller unterschriebenen Ehevertrag, der am 14. Dezember 1752 nach Bern zurückgesendet wurde, schien für Haller die kommende Hochzeit seiner Tochter sicher zu sein. Am 20. Dezember 1752 informierte er seinen Freund Johannes Gessner und Vinzenz Bernhard Tscharner über die Verlobung und seine bevorstehende Reise nach Bern. Aus den beiden Briefen wird klar, dass Haller im Frühjahr 1753 für die Hochzeit seiner Tochter sowie für die Wahlen nach Bern reisen würde.

241
Er bekam die Gelegenheit endlich Vinzenz Bernhard Tscharner persönlich zu treffen. Die Länge seines Aufenthalts blieb aber ungewiss. Wie in der Korrespondenz angedeutet, sollte schlussendlich die Vorsehung darüber entscheiden.
242
Gegenüber seinem Freund Johannes Gessner drückte sich Haller konkreter aus, als er am 18. April 1753 schrieb, dass das Los entscheiden werde, ob er nach Göttingen zurückkehre oder in der Heimat bleibe. Während des Ancien Régime entschied in Bern vor allem das Los über die Vergabe von politischen Ämtern; dasselbe galt auch über den Einzug vom Grossen in den Kleinen Rat. Haller konnte sich 1753 schliesslich gegenüber 33 Mitbewerbern durchsetzen und erhielt das Amt des Ratshausammanns. Diese Stelle war nicht gerade sehr lukrativ, aber gut genug, dass Haller sich für Bern entschied.
243